Kippen – Wanken – Gleiten

Normenstreit – Die Ladungssicherung ist seit zwei Jahren geprägt von einem Disput um die Norm DIN EN 12195-1:2011. Die Fronten scheinen verhärtet. Was fehlt, ist eine vernunftorientierte Sichtweise.

(Prof. Kapt. Hermann Kaps) Um bislang weniger informierten Lesern den Einstieg zu erleichtern, wird zunächst in aller Kürze der Hintergrund des Disputs dargestellt. Bis zum Jahr 2004 wurde in Deutschland die Ladungssicherung auf Straßenfahrzeugen nach der VDI-Richtlinie 2700, Blatt 2 geplant, ausgeführt und gelegentlich auch polizeilich kontrolliert. Auch vor Gericht galt diese Richtlinie als anzuwendender "Stand der Technik" zur Erfüllung der Anforderungen der Straßenverkehrsordnung. Mit den Regeln in dieser Richtlinie waren alle Beteiligten offensichtlich zufrieden, auch wenn sie in der Praxis nicht immer konsequent befolgt wurden.

2003 wurde nach jahrelangen Beratungen eines europäisch besetzten Gremiums die europäische Norm EN 12195-1:2003 für die Ladungssicherung auf Straßenfahrzeugen verabschiedet und ein Jahr später als DIN EN 12195-1:2004 vom Deutschen Institut für Normung übersetzt herausgegeben. Diese erste Fassung der Norm enthielt einige Neuerungen gegenüber der zuvor genannten VDI-Richtlinie. Insbesondere wurde zur Bewertung von Niederzurrungen mit dem sogenannten k-Faktor der Verlust an Vorspannkraft durch Reibung an der Ladungsoberfläche berücksichtigt. Der tritt bei einseitigem Spannmittel unweigerlich auf. Allein dieser k-Faktor führte im Regelfall zu einem Mehraufwand an Zurrmitteln von 33 %. Wenn also eine bestimmte Ladung nach der alten VDI-Richtlinie mit 9 Gurten niedergezurrt werden musste, so waren jetzt 12 Gurte erforderlich. Außerdem enthielt diese Norm eine neue Formel zur Bewertung einer Niederzurrung gegen Kippen der Ladung, die derart dilettantisch entworfen worden war, dass sie unter Umständen eine unendlich große oder sogar eine negative, im Regelfall aber eine unsinnig hohe Anzahl von Gurten forderte.

Diese und weitere Unzulänglichkeiten wurden von einigen anderen europäischen Ländern beanstandet und führten zur Neuaufnahme von Beratungen, aus denen im Jahr 2010 die Neufassung der EN 12195-1:2010 hervorging. Der k-Faktor wurde gestrichen, dafür jedoch ein kleiner Sicherheitsfaktor eingeführt. Auch die anderen Ungereimtheiten wurden korrigiert.

Die Neufassung der europäischen Norm wurde ein Jahr später als DIN EN 12195-1:2011 herausgegeben, aber in Deutschland mit einem nationalen Vorwort versehen. In diesem Vorwort wird beklagt, dass die neue Fassung der Norm "in wesentlichen Punkten nicht dem in Deutschland üblichen Sicherheitsniveau" entspreche. Es wird auf ein "höherwertiges Sicherheitsniveau" und in diesem Zusammenhang auf "nationale Vorschriften, Regelwerke und Verordnungen" verwiesen.

Das hatte zur Folge, dass die Polizeibehörden der deutschen Bundesländer an der Fassung der Norm von 2004 festhielten, aber ebenso gern auf die bewährte VDI-Richtlinie 2700/2 zurückgriffen. Allein dieser Zustand ist für ausländische Lkw-Fahrer unbefriedigend, die ihre Ladung nach der Neufassung der Norm sichern, und in Deutschland unter Umständen nach der alten Fassung überprüft werden.

Verschärft wird diese unbefriedigende Situation aber noch weiter dadurch, dass das ADR 2013 die neue Norm EN 12195-1:2010 als Grundlage für die Sicherung von Gefahrgut anerkannt hat. Damit darf Gefahrgut nach definitiv geringeren Anforderungen gesichert werden als sie in Deutschland (noch) für Nichtgefahrgut verlangt werden. Das versteht keiner mehr.

Diese derzeitige Situation in Deutschland hat den Gesamtverband der Versicherungswirtschaft (GdV) veranlasst, die Vorgaben der Rechenmodelle in den Normen und Richtlinien gründlich prüfen zu lassen, um Material für eine möglichst baldige Einigung der Standpunkte zur Verfügung stellen zu können. Die Ergebnisse sind unter www.tis-gdv.de in zwei Abhandlungen veröffentlicht worden. Sie werden hier in aller Kürze und ohne mathematisches Beiwerk vorgestellt.

Vereinfachte Rechenmodelle

Alle Regeln, Formeln oder Tabellen, die in Richtlinien und Normen dazu dienen, eine ausreichende Ladungssicherung vorzunehmen oder zu prüfen, stehen auf der Grundlage stark vereinfachter Rechenmodelle. Solche Rechenmodelle sind nützliche Ratgeber in vielen praktischen Bereichen des täglichen Lebens. Jeder kennt die Abstandsregel zum Vordermann auf der Autobahn: Mindestabstand in Metern = halber Tachostand in km/h. Jeder weiß aber auch, dass diese Regel weitere unbekannte Größen, wie Reaktionszeiten, Bremseigenschaften und Fahrbahnbeschaffenheit nicht direkt, sondern nur statistisch berücksichtigt, vielleicht mit einem angemessenen Sicherheitszuschlag.

So ist es auch mit den Rechenmodellen für die Ladungssicherung. Das derzeit strittige Modell für die Bewertung von Niederzurrungen berücksichtigt zur Bestimmung der Sicherungswirkung nur den Reibbeiwert auf der Ladefläche, die Vorspannkraft am Spannmittel und den vertikalen Zurrwinkel. Dabei bleiben zusätzliche Sicherungswirkungen infolge geringfügiger Ladungsbewegungen, aber auch negative Einflüsse wie Setzvorgänge mit Nachlassen der Vorspannkraft außer Acht mit der berechtigten Annahme, dass sich diese zusätzlichen Effekte weitgehend ausgleichen.

Vereinfachte Rechenmodelle werden zwar so weit wie möglich nach den Gesetzen der Physik entworfen, bilden aber keineswegs die Physik vollständig ab. Es ist also unzulässig und oft auch unsinnig, aus vereinfachten Rechenmodellen weitergehende Schlüsse zu ziehen, wie z.B. den, dass eine senkrechte Niederzurrung die beste Sicherungswirkung ergibt, nur weil der Sinus von 90° den größtmöglichen Wert von Eins hat.

Die alte Richtlinie VDI 2700/2 in der Fassung von 2002 hatte den Übertragungsverlust in der Vorspannung bei einseitigem Spannmittel nicht in Rechnung gesetzt, sondern auf den Ausgleich mit den zusätzlichen Sicherungswirkungen vertraut. Erst die europäische Norm in ihrer Fassung von 2003 berücksichtigte diesen Übertragungsverlust mit einem pauschalen k-Faktor und verschob damit das Rechenmodell erheblich zur "sicheren Seite", wie oben beschrieben. Ob das berechtigt oder gar notwendig war, kann nur beurteilt werden, wenn man untersucht, was wirklich bei einer Vollbremsung oder plötzlichem Ausweichen passiert.

Ein ehernes Gesetz der Mechanik lautet: Wirkt eine äußere Kraft auf einen in einem Bezugssystem ruhenden Körper, so muss sich dieser Körper geringfügig bewegen oder verformen, um in einem neuen Gleichgewichtszustand wieder zur Ruhe zu kommen. Dieses Gesetz ist ohne weiteres auf die Ladungssicherung anzuwenden. Das Bezugssystem ist die Ladefläche und der Körper ist die Ladung. Solange das Fahrzeug ungestört fährt, herrscht Ruhe. Die Ladungssicherung ist insgesamt gleich Null, weil sich alle Kräfte aufheben.

Bei einer Vollbremsung oder einem plötzlichen Ausweichen wirken starke Trägheitskräfte auf die Ladung. Sie bewegt und/oder verformt sich, Haft- oder Gleitreibung beginnt zu wirken, Zurrmittel werden auf der einen Seite gedehnt und auf der anderen entlastet und die Sicherungskräfte bauen sich gegen die Trägheitskräfte auf. Auch an einer Niederzurrung ändert sich die Zurrgeometrie infolge geringfügiger Ladungsbewegung in günstiger Weise so, dass zusätzliche Sicherungswirkungen entstehen, die nicht im vereinfachten Rechenmodell ausgewiesen werden. Dazu müssen die elastischen Dehnungseigenschaften der Zurrmittel sowie die Reibung zwischen Ladung und Zurrmittel berücksichtigt werden. Diese Berechnungen sind komplizierter als die vereinfachten Modelle. Sie werden in den zuvor genannten Abhandlungen dargestellt, sollen jedoch keineswegs als Befürwortung einer "gewissen Bewegungsfreiheit der Versandstücke auf der Ladefläche" missverstanden werden.

Vergleich der Normen und Richtlinien

Die Ergebnisse solcher ausführlichen Berechnungen können als Maßstab dienen, die zur Zeit in Deutschland konkurrierenden Rechenmodelle zu bewerten und sie miteinander zu vergleichen. Für die Niederzurrung ergibt sich folgendes Bild mit gleichen und plausiblen Annahmen für die Reibbeiwerte:

Die tatsächliche Sicherungswirkung einer quer zum Fahrzeug geführten Niederzurrung mit einseitigem Spannmittel und unter Berücksichtigung des Übertragungsverlusts an Vorspannkraft ist deutlich größer als alle Ergebnisse der drei Rechenmodelle aus VDI 2700/2, DIN EN 12195-1:2004 und DIN EN 12195-1:2011, und das sowohl in Querrichtung als auch in Längsrichtung zum Fahrzeug).

Die hierzu notwendigen Ladungsbewegungen sind deutlich kleiner als diejenigen, die bei einer direkt gesicherten Ladungseinheit unweigerlich notwendig sind, um die in den für Direktsicherung gültigen Rechenmodellen verwendeten maximal zulässigen Zurrkräfte LC (Lashing Capacity) zu erreichen.

Der infolge der Neufassung der europäischen Norm im Jahre 2010 beklagte "Sicherheitsverlust" ist kleiner als der zuvor mit der Verabschiedung der Vorläuferversion im Jahre 2003 erzielte "Sicherheitszuwachs".

Für die Sicherungswirkung einer Niederzurrung gegen Kippen sind die Ergebnisse ähnlich und z.T. noch günstiger.

Es besteht damit kein ersichtlicher Grund, an der umstrittenen Fassung der europäischen Norm von 2003 festzuhalten. Hinzu kommt, dass diese erste Fassung für die Kippsicherung mittels Niederzurrung die zuvor schon erwähnte unsinnige Formel enthält. Hierzu führt der europäische Industrieverband Cefic in einem Artikel in gela 07/2012 zu Recht ein keineswegs extremes Beispiel an, in dem eine kippgefährdete Ladungseinheit von 2 t nach der Norm von 2003 mit 30 Spanngurten niedergezurrt werden müsste. Bei sachgemäßer Anwendung der physikalischen Grundsätze reichen für dieses Beispiel ganze 2 Gurte für die Kippsicherung aus.

Cefic argumentiert in diesem Artikel auch gegen den k-Faktor. Diese Argumente sind zwar nicht ganz stichhaltig, aber glücklicherweise überflüssig, weil der unweigerlich auftretende Übertragungsverlust an Vorspannkraft durch die oben beschriebenen zusätzlichen Sicherungswirkungen mehr als ausgeglichen wird.

Weitere strittige Unterschiede zwischen den beiden Fassungen der europäischen Norm betreffen den Umgang mit dem sogenannten Wankfaktor, der einen Zuschlag zur Beschleunigungsannahme quer zum Fahrzeug bei kippgefährdeten Ladungseinheiten darstellt, und die wichtige Frage, welcher Reibbeiwert für niedergezurrte Ladungen verwendet werden soll.

Die Fassung von 2003 hatte auf deutsches Betreiben den Wank-Zuschlag von 0,2 g aus der Richtlinie VDI 2700/2 übernommen. Die Fassung von 2010 hat diesen Zuschlag aufgrund unabhängiger Plausibilitätsüberlegungen auf 0,1 g verringert. Selbst dieser Wert scheint noch reichlich bemessen zu sein, weshalb der derzeitige Entwurf eines neuen, internationalen CTU-Codes (Richtlinie für das Beladen von Güterbeförderungseinheiten) auf einen solchen Zuschlag ganz verzichtet.

Für niedergezurrte Ladungen verlangte die Fassung von 2003 in dem Rechenmodell die Verwendung des Gleitreibbeiwerts, wie schon die Richtlinie VDI 2700/2. Das führte im Zusammenspiel mit dem neu eingeführten k-Faktor zu einer drastischen Erhöhung der notwendigen Anzahl von Zurrmitteln, vor allem für diejenigen europäischen Länder, in denen bis dahin für Niederzurrungen mit dem etwas größeren Haftreibbeiwert gerechnet werden durfte. Die neue Fassung der Norm schreibt hier die Verwendung eines Mittelwerts zwischen Haftreibbeiwert und Gleitreibbeiwert vor. Das stellt eine durchaus akzeptable Lösung dar, wenn man sich die eigentliche Aufgabe eines vereinfachten Rechenmodells vor Augen hält. Überdies enthält die neue Fassung der Norm verhältnismäßig strenge Auflagen für die Verwendung eines Reibbeiwerts für den leider nicht seltenen Fall, dass die Ladefläche verschmutzt oder anderweitig in ihrem Haftvermögen beeinträchtigt ist.

Zusammenfassung

Als Ausgangspunkt des gegenwärtigen Disputs kann das nationale Vorwort des Deutschen Instituts für Normung e.V. zur DIN EN 12195-1:2011 angesehen werden. Wenn dort für die Wahrung eines in Deutschland allgemein anerkannten Sicherheitsniveaus geworben wird, so kann praktisch nur ein Niveau zum Vergleich betrachtet werden, welches auf der Richtlinie VDI 2700/2 beruht. Die zwar juristisch heranzuziehende Vorläuferversion DIN EN 12195-1:2004 war dafür nicht lange genug in Gebrauch und ihre verschärften Auflagen wurden kaum umgesetzt, wie sich bei zahlreichen Straßenkontrollen gezeigt hat.

Vergleicht man nun die Forderungen der DIN EN 12195-1:2011 mit denen der Richtlinie VDI 2700/2, so ergibt sich in wirklich allen wichtigen Bereichen sogar ein kleiner Sicherheitszuwachs. Zu diesem Ergebnis kann jeder Anwender gelangen, wenn er die Rechenmodelle und sonstigen Vorgaben sorgfältig vergleicht. Zu diesem Ergebnis ist außerdem die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) bereits im Jahre 2011 gekommen.

Es besteht also keine Veranlassung, an der außer Kraft getretenen Fassung der europäischen Norm festzuhalten, wenn man mit dem Sicherheitsniveau der alten Richtlinie VDI 2700/2 zufrieden war. Das schließt aber nicht aus, dass die Norm DIN EN 12195-1:2011, also die neue Fassung, an einigen Stellen noch verbessert werden könnte. Doch das steht hier nicht zur Debatte.

(aus: sichere ladung 2013/14, www.gefaehrliche-ladung.de)

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