Neben der Spur

Nordamerika – In den USA und Kanada häufen sich Bahnunfälle mit Beteiligung von Kesselwagen. Behörden und Bahnverbände haben nun Maßnahmen getroffen, um die auffällige Unfallserie zu stoppen.

(skl) Nachrichtenagenturen und die internationale Fachpresse berichten seit Mitte 2013 immer wieder von Kesselwagen-Entgleisungen in Nordamerika. Eine Auswahl:

  • Baltimore, Maryland (USA), 28. Mai 2013: In einem Industriegebiet nahe der Großstadt Baltimore kollidierte ein Lkw mit einem Güterzug. 15 von 45 Wagen entgleisten, darunter ein Wagen mit dem explosionsgefährlichen Stoff Natriumchlorat. Es kam zu einer Detonation und einem Großbrand.
  • Lac-Mégantic, Québec (Kanada), 6. Juli 2013: Ein mit Rohöl beladener Kesselwagen-Ganzzug raste frühmorgens führerlos durch die Kleinstadt Lac-Mégantic und entgleiste im Zentrum. Etliche der 73 Kesselwagen brachen auf, die Ladung verbrannte explosionsartig. Mindestens 35 Gebäude wurden zerstört, darunter eine gut besuchte Bar. Es waren 47 Todesopfer zu beklagen. Erst nach 24 Stunden waren die Flammen unter Kontrolle. Ursache dafür, dass der Unglückszug von allein ins Rollen kam, waren nicht genügend angezogene Handbremsen vor dem Abstellen auf einer Bahnstrecke mit Gefälle.
  • Lawtell, Louisiana (USA), 5. August 2013: Ein Güterzug entgleiste nahe der Stadt Lawtell. Mehr als 20 Waggons kamen dabei von den Schienen ab, darunter Wagen mit Natriumhydroxid, Vinylchlorid und Öl. Es kam daraufhin zu kleineren Leckagen an den beteiligten Kesselwagen. Etwa 100 Gebäude im Umkreis von einer Meile von der Unfallstelle wurden geräumt. Es gab einen Verletzten mit leichten Verätzungen.
  • Gainford, Alberta (Kanada), 20. Oktober 2013: 13 Wagen eines mit Öl und Flüssiggas beladenen Zuges entgleisten. Die Stadt wurde evakuiert. Erst zwei Tage zuvor kam es in Sexsmith, ebenfalls in der Provinz Alberta, zu einer Entgleisung von vier Kesselwagen mit potenziell sehr gefährlichem wasserfreien Ammoniak.
  • Casselton, North Dakota (USA), 30. Dezember 2013: In der Nähe der Stadt Casselton entgleiste zunächst ein Zug mit Getreide. Als ein zweiter Zug mit Rohöl-Kesselwagen aus der Gegenrichtung mit Wagen des ersten Zuges zusammenstieß, kommt es zum Brand und mehreren Bleves (Boiling Liquid Expanding Vapor Explosion) mit Bildung eines riesigen Feuerballs. Hunderte Menschen aus einem Umkreis von acht Kilometern waren während der mehrtägigen Löscharbeiten in Notunterkünften untergebracht. Beide Züge bestanden aus jeweils mehr als 100 Waggons, insgesamt 28 Wagen waren aus den Schienen gesprungen. Die Unfallursache war zunächst nicht bekannt. Casseltons Bürgermeister sprach davon, dass in der jüngeren Vergangenheit schon häufiger Züge in der Region entgleist wären.
  • Plaster Rock, New Brunswick (Kanada), 7. Januar 2014: In einem dünn besiedelten Gebiet der südöstlichen Provinz New Brunswick entgleisten nachts 15 Wagen eines Zuges, darunter je vier mit Rohöl und Propan. Es kam zu einem Großbrand, verletzt wurde niemand.


Fracking und Ölsande

Hintergrund der Unfallserie von Rohölkesselwagen ist ein regelrechter Boom der nordamerikanischen Gas- und Ölexploration. Mittels neuer Fördertechniken wie Fracking werden seit einigen Jahren zuvor unzugängliche oder unrentable Lagerstätten (meist in Schiefergestein) ausgebeutet. Aufgrund des Booms dürften die USA der Internationalen Energieagentur (IEA) zufolge Russland im nächsten Jahr bei der Erdgas-Förderung überholen, zwei Jahre darauf Saudi-Arabien bei der Ölproduktion überflügeln und langfristig von Energie-Importen unabhängig sein.

Um eingeschlossenes Gas oder Öl durch Fracking freizusetzen, werden Wasser, Sand und Chemikalien unter hohem Druck in das Schiefergestein gepresst. Die derzeit größten Fracking-Fördergebiete liegen in Texas im Süden sowie in North Dakota in der Bakken-Formation, welche sich über die kanadische Grenze nach Saskatchewan erstreckt. Weiter nordwestlich, in der kanadischen Provinz Alberta, wird Erdöl auch aus ölhaltigen Sanden im großflächigen Tagebau gewonnen. Allein das Abbaugebiet Athabasca Oil Sands erstreckt sich über 50.000 Quadratkilometer.

Durch die sprunghaft gestiegene Öl- und Gasförderung nimmt auch der Transportbedarf stark zu. Die neuen Förderstätten liegen oft mitten in der Prärie, weitab von Raffinierien, Pipelines und sonstiger industrieller Infrastruktur. Um die Rohstoffe wegzuschaffen, greifen die Öl- und Gasförderer daher vornehmlich auf die Eisenbahn als flexibles, auch große Mengen bewältigendes Transportmittel zurück. Der Bau von Pipelines zu den an den Küsten angesiedelten Raffinerien dauert einige Zeit – oder er rechnet sich im Vergleich zur Bahn, der Rolling Pipeline, nicht.

Die Canadian Railway Association (CRA) schätzt, dass 2013 etwa 150.000 Kesselwagenladungen Rohöl in dem Land befördert wurden, 2009 waren nur 500 Wagen mit Rohöl gezählt worden. Auch in den USA haben die Öltransporte per Bahn stark zugenommen: die dortigen Raffinerien erhielten 2012 mehr als 1 Million Barrel Öl am Tag per Bahn, eine Steigerung um 57 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Aufgrund der riesigen Nachfrage nach Kesselwagentransportraum übersteigt der Auftragsbestand der US-amerikanischen Waggonbauindustrie inzwischen die dreifache Jahresproduktion.

Veralteter Wagenstandard

Nun waren die Kesselwagen an sich nicht ursächlich für die zahlreichen Unfälle, schließlich gilt etwa das 228.000 Kilometer lange US-Schienennetz als stark sanierungsbedürftig. Fakt ist aber, dass die meisten Kesselwagen dem inzwischen veralteten Sicherheitsstandard DOT-111 (in Kanada: CTC-111A) entsprechen. Die Wagen gelten heute als unsicher in Bezug auf ihre Crashfestigkeit bzw. Dichtigkeit nach Unfällen. Die American Association of Railroads (AAR – das Pendant zur kanadischen CRA), schätzt, dass derzeit noch 228.000 von insgesamt 335.000 Kesselwagen den alten DOT-111-Standard aufweisen. Meist handelt es sich dabei um Mineralölwagen oder Wagen für ungefährliche Produkte. Bei den Druckgaswagen für den Transport von Inhalation Hazard-Stoffen wie Chlor oder Ammoniak ist der Sicherheitssstandard hingegen wesentlich höher, nachdem eine Unfallserie vor rund einem Jahrzehnt verschärfte Vorschriften nach sich zog.

Der Druck durch die Öffentlichkeit und die zuständigen Behörden auf Bahnen und Ölindustrie ist durch die jüngste Unfallserie groß geworden. Angesichts der derzeitigen Nachfrage der Industrie nach Transportraum – nicht zuletzt geht es den USA um die (Selbst-)versorgungsstrategie mit dem wichtigsten Rohstoff – scheut man aber vor dem schnellen Ausrangieren des alten Wagenmaterials zurück.

Das Tank Car Committee des Verbands AAR hat bereits im Jahr 2011 einen neuen Industriestandard für neugebaute Rohöl-und Ethanol-Kesselwagen eingeführt, der die gesetzlichen Vorgaben der Pipeline and Hazardous Materials Safety Administration (PHMSA) des US-Verkehrsministeriums (DOT) übertrifft. Der Standard ist gekennzeichnet durch eine dickere Tankwandung, Schutzschilde an den Tankböden und einen Schutz der oberen Armaturen. 14.000 Wagen des neuen Industriestandards sind derzeit schon im Einsatz, laut AAR werden aber noch rund 78.000 ältere Kesselwagen für den Transport brennbarer Flüssigkeiten eingesetzt.

Im November 2013 reichte die AAR bei der PHMSA folgende Forderungen zur Nachrüstung der 78.000 Altwagen ein: äußerer Stahlmantel ("outer steel jacket)" um den Kessel, Hitzeschutz, Tankbödenschilde über die volle Höhe und Hochdurchflussventile ("high-flow capacity pressure relief valves"). Dies solle ab sofort auch für Neubauwagen gelten. Die 14.000 ab 2011 gebauten Wagen seien an den Ventilen umzurüsten. Alte DOT-111 Wagen, bei denen keine Nachrüstung möglich ist, müssten aggressiv aus dem Verkehr genommen werden, zumindest für den Transport brennbarer Flüssigkeiten.

Bislang gibt es in den USA erst eine Vorschriftenverschärfung infolge der Unfälle. So hat die PHMSA eine vorläufige Leitlinie zur richtigen Klassifizierung von Rohöl durch Versender erlassen. Denn Untersuchungen nach den Unglücken von Lac Mégantic und Casselton haben ergeben, dass Rohöl aus der Bakken-Formation oft einen viel geringeren Flammpunkt als "Normal-Öl", der es für Verpackungsgruppe II oder gar I klassifiziert, sowie einen höheren Anteil an korrosivem Schwefelwasserstoff aufweist.

Unfallstatistik und Wagenposition

Aufgrund der Weite des Territoriums und historischer Gründe ist der Schienenverkehr Nordamerikas von einigen Besonderheiten geprägt. Am auffälligsten sind die enormen Zuglängen und Wagenkombinationen. Es ist nichts Ungewöhnliches, wenn in einem bis zu zwei Kilometer langen Zugverband sowohl Baustoffe (Zement, Stahl, Holz) und Brennstoffe (Kohle, Mineralöle) als auch landwirtschaftliche Produkte befördert werden. Dadurch sind in den Zügen oft verschiedenste Wagentypen eingestellt, die hinsichtlich Länge, Masse und Schwerpunktlage stark variieren; darüber hinaus werden natürlich auch leere Wagen befördert. Die ungleiche Massenverteilung im Zugverband befördert den Stringlining-Effekt. Dies bezeichnet eine Entgleisungsart, bei der leere/leichte Güterwagen, die in der Zugmitte angeordnet sind, bei einer Kurvenfahrt aus dem Gleisbett gehoben werden, ohne dass ein technischer Defekt vorliegt.

Vor diesem Hintergrund wurden schon einige Untersuchungen geführt, in welchem Bereich der Züge Gefahrgüter einzureihen sind, damit diese von einer Entgleisung möglichst wenig betroffen werden. Mit Hilfe von Datenbanken des National Safety Transportation Boards (NTSB) wertete die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) vor kurzem 119 Unfallereignisse mit Bahnkesselwagen in Nordamerika aus. 75 Prozent der untersuchten Unfälle ereigneten sich zwischen 2000 und 2011. Die Ursachen lagen entweder in der Schieneninfrastruktur (Schienenbruch, defekte Weiche), dem Wagenmaterial ("Heißläufer", Achsbruch) oder in menschlichen Fehlern begründet. Nur in einem Fall entgleisten alle Wagen, wohl wegen der relativ hohen Zuggeschwindigkeit. Die durchschnittliche Zuglänge betrug 92 Wagen.

"Wir haben festgestellt, dass die hinteren Wagen eines Zugverbands die Mehrzahl der Entgleisungsfälle unbeschädigt überstehen", so Dr. Rainer Konersmann vom BAM-Fachbereich "Gefahrguttanks und Unfallmechanik". Dies sei besonders gut zu erkennen, wenn eine statistische 1/6-Teilung des Zuges vorgenommen werde. Folglich könnte das Risiko einer Gefahrgutfreisetzung dadurch gemindert werden, dass Kesselwagen möglichst am Ende des Zuges positioniert werden.

 
Europäischer Schienengüterverkehr vergleichsweise sicher

Im europäischen Schienengüterverkehr wurden in den vergangenen Jahren insbesondere nach dem Unglück im italienischen Viareggio im Jahr 2009 etliche sicherheitserhöhende Maßnahmen eingeführt. Teils waren dies Selbstverpflichtungen des Sektors, teils regulative Vorgaben. Durch die Vielzahl der Maßnahmen erhöhten sich die Kosten für die Waggonvorhaltung – je nach Wagengattung, Laufleistung und Flottengröße des Wagenhalters – um bis zu 60 Prozent. Dadurch stiegen auch die Bahntransportkosten insgesamt, etwa auf der Strecke Rotterdam–Genua um rund 5 Prozent. Letztlich führten die Maßnahmen so zu einer Schwächung der Wettbewerbsposition der Eisenbahn gegenüber dem Lkw.

Auf der anderen Seite sind die Auswirkungen der eingeführten sowie ggf. noch kommenden Maßnahmen auf das Sicherheitsniveau im Schienengüterverkehr statistisch nicht bekannt. Grundsätzlich liegen zwar statistische Daten auf EU-Ebene über Unfälle im Schienen- und auch im Straßengüterverkehr vor. Bisher wurde aber nie untersucht, wie viele Unfälle sich im Schienen- und Straßengüterverkehr aufgrund von technischen Mängeln ereignen.

Vor diesem Hintergrund gaben die International Union of Wagon Keepers (UIP) und die deutsche Vereinigung der Privatgüterwagen-Interessenten (VPI) bei der Gesellschaft für Transport- und Unternehmensberatung hwh eine Studie in Auftrag. Diese untersucht die Entwicklung des Sicherheitsniveaus im Schienengüterverkehr im Vergleich zum Straßengüterverkehr: im Allgemeinen sowie in Bezug auf die Anzahl der bei Unfällen aufgrund von technischen Mängeln am Fahrzeug tödlich verunglückten und verletzten Personen. Dabei wurde ein besonderes Augenmerk auf die Vergleichbarkeit der Daten zwischen beiden Verkehrsträgern gelegt. "Zu diesem Zweck haben wir die ermittelten absoluten Werte mit den jeweiligen Verkehrsleistungen der Verkehrsträger Straße und Schiene verknüpft", so Stefan Hagenlocher von hwh.

Allgemeine Unfallzahlen

Der Vergleich der Unfallstatistiken zeigt, dass das Sicherheitsniveau im Schienengüterverkehr deutlich höher ist als im Straßengüterverkehr. Während im Straßenverkehr zwischen 2006 bis 2010 durchschnittlich 3,236 Personen pro Milliarde Tonnenkilometer bei Unfällen tödlich verunglückten (absolut fast 30.000 Tote), liegt dieser Wert im Schienengüterverkehr bei 0,075 (absolut 143 Tote). Die relative Unfallkennzahl ist hier also rund 43 Mal niedriger.

Unfälle durch Fahrzeugmängel

"Auf EU-Ebene liegen keine Statistiken über Straßengüterverkehrsunfälle aufgrund von technischen Fahrzeugmängeln vor", so Hagenlocher. "Wir konnten aber aus vorhandenen Studien zum Thema sowie durch Auswertung von nationalen Verkehrsunfallstatistiken Annahmen über den Anteil dieser Unfallursache an den gesamten Straßengüterverkehrsunfällen treffen." Dieser Anteil liegt in einer Bandbreite zwischen 1 (Deutschland) bis 5 Prozent (Polen) aller Straßengüterverkehrsunfälle. Für den Schienengüterverkehr existiert indes eine Datenbank der European Railway Agency (ERA), aus der die Ursachen für Unfälle ausgewertet werden konnten.

Im Ergebnis kommt die Studie für den Straßengüterverkehr im Zeitraum von 2006 bis 2010 auf Werte zwischen 0,032 (untere Annahme von 1 Prozent) und 0,162 (obere Annahme von 5 Prozent) tödlich verunglückter Personen je Milliarde Tonnenkilometer aufgrund von Fahrzeugmängeln. Der Wert im Schienengüterverkehr liegt bei 0,018 und ist damit 2 bis 9 Mal niedriger.

Anders ausgedrückt verunglückte im Schienengüterverkehr nur alle 55,5 Milliarden Tonnenkilometer eine Person tödlich wegen technischer Fahrzeugmängel. Dabei ist zu beachten, dass sich hier im Untersuchungszeitraum zwischen 2006 bis 2010 überhaupt nur ein Unfall mit Todesfolgen ereignet hat, nämlich der Unfall von Viareggio mit 32 Todesopfern.

(aus: gela 02/14, www.gefaehrliche-ladung.de)

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