Rückblick – Anfang Oktober kam die European Petrochemical Association (EPCA) zu ihrem nun schon 51. Jahrestreffen in Berlin zusammen. Dabei stand einmal mehr das Thema Digitalisierung auf der Agenda.
Von Stefan Klein
Das EPCA Annual Meeting, mit fast 3.000 Besuchern die größte Veranstaltung der Chemiebranche in Europa, stand in diesem Jahr unter dem Motto „Die Chemieindustrie und die vierte industrielle Revolution“. Letztere, auch unter dem Begriff Industrie 4.0 bekannt, bezeichnet allgemein die Vernetzung der industriellen Produktion mit moderner Informations- und Kommunikationstechnik. Auf diese Weise soll eine weitestgehend selbstorganisierte Produktion ermöglicht werden, bei der Mitarbeiter, Maschinen und Produkte direkt miteinander kommunizieren; dies schließt den Produktionsvor- und -nachlauf – mithin die Logistik – ein.
„Die vierte industrielle Revolution kommt zunächst unscheinbarer daher als ihre Vorgänger“, sagte Martin Wolf, angesehener britischer Ökonom und Chefkommentator der Financial Times, in seinem Eröffnungsvortrag. Doch sei sie letztlich genauso tiefgreifend wie die drei vorhergehenden (Dampfmaschine, Fließbandfertigung/Elektrifizierung, Automatisierung/Computerisierung). Nicht umsonst kommen derzeit sieben der zehn wertvollsten Unternehmen der Welt aus dem IT-Sektor. Vor zehn Jahren hatte noch Exxon den weltweit höchsten Börsenwert, auf Platz 3 folgte mit Total ein weiterer Mineralöl-/Chemiekonzern. Hinter dieser Entwicklung stecke laut Wolf auch, dass es in den marktgesättigten Industriestaaten kaum noch nennenswertes Produktionswachstum gebe: nur noch um die zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes entfalle in den meisten Industriestaaten auf die reine Industrie, die von anderen Bereichen wie Dienstleistungen, Gesundheit oder Bildung inzwischen überholt wurde. Zudem habe es in den letzten Jahren allenfalls minimale Produktivitätssprünge gegeben. Die Technologien der vierten industriellen Revolution wie etwa Internet der Dinge, Cloud Computing, Künstliche Intelligenz, Big Data in Verbindung mit Sensortechnik bieten nun auch für so eine klassische Industrie wie die Petrochemie neue Chancen, die stagnierenden wirtschaftlichen Kennzahlen wieder nach oben zu treiben.
James Fitterling, Chief Operating Officer des Dow-Konzerns, skizzierte den Einzug der Industrie 4.0 im Unternehmen, ein eher evolutionärer denn revolutionärer Prozess: „Es ist nicht so, dass einfach von oben nach unten eine neue Technologie eingeführt wird, vielmehr durchzieht die Digitalisierung die gesamte Organisation, jeder arbeitet dabei mit den gleichen Informationen und Zielen.“ Auch die alteingesessene Petrochemie werde sich wie andere Branchen über kurz oder lang neuer Marktteilnehmer erwehren müssen, die ihre Geschäftsideen grundsätzlich eher von der Kundenperspektive her entwickeln. Als Beispiele führte Fitterling den Markteintritt von Uber im Bereich des Personentransports und von Airbnb in der Hotelbranche an. Warum sollte nicht auch in der Chemieindustrie zum Beispiel ein großer Online-Händler wie Amazon oder Alibaba aufkommen, der das klassische Geschäftsmodell der Produzenten durchbricht?
In seinem Vortrag über die digitale Transformation der Chemieindustrie erläuterte Hariolf Kottmann, Chief Executive Officer von Clariant sowie aktueller Präsident des europäischen Chemieverbands Cefic, wie die in den vergangenen Jahren stark verbesserte Datenverfügbarkeit und eine zugleich viel effizienter gewordene Datenanalyse sowohl upstream (Beispiel: schlanke, maßgeschneiderte Produktion durch Roboter statt in langfristig geplanten und finanziell gebundenen Großanlagen) als auch downstream (Beispiel: erweiterte Rolle der Transportverpackung über den bloßen Transport hinaus) der Petrochemie verändern können.
Digitalisierung in der Supply Chain
Wie immer auf dem EPCA-Jahrestreffen gab es neben der allgemeinen Business Session mit den oben erwähnten Vorträgen und einem speziell dem Nachwuchs/Personalmanagement gewidmeten Programmteil auch einen als Logistics and Supply Chain Session betitelten Vortragsblock am letzten Veranstaltungstag, der sich ebenfalls mit den Auswirkungen der Digitalisierung – nur eben speziell auf die Chemielogistik – befasste.
Den Auftakt dazu gab Prof. Ann Vereecke von der Vlerick Business School in Gent, die eine jüngst von der belgischen Hochschule durchgeführte Studie mit dem Titel „The impact of digitisation on the petrochemical Supply Chain“ vorstellte. Ein Teil dieser Studie war eine Umfrage unter Chemieunternehmen, deren Kunden und Logistikern. Demnach sind 73 Prozent der Chemieunternehmen der Ansicht, dass ihre Branche in Sachen digitale Transformation hinterher hinke. Bei den Kunden waren sogar 95 Prozent dieser Ansicht.
Die „digitalen Ambitionen“ seien bei den befragten (Chemie-)Händlern sowie Logistikern besonders hoch gewesen. Demgegenüber haben die meisten Chemieunternehmen aussichtsreiche Digitalisierungsprojekte wie etwa mit Logistikern geteilte IT-Plattformen, Big Data/fortgeschrittene Datenanalyse oder kostengünstige Sensortechnik erst gestartet: nur 13 Prozent meldeten eine komplette oder fast fertige Realisierung solcher Projekte. Und jene gaben auch eher verhaltene Antworten, was die Verbesserung von Leistungskennzahlen des Unternehmens durch diese Projekte angeht: am ehesten seien diese in der Mitarbeiterproduktivität und im Kundenservice zu spüren, bei anderen Parametern wie Beschaffungskosten, Lagerkosten oder Kapazitätsauslastung braucht es offenbar einfach Zeit.
Luc Niazi, beim IT-Konzern IBM global verantwortlich für den Bereich Chemie & Mineralöl, ging in seinem Vortrag besonders auf das Konzept der Blockchain ein, das erstmals mit der digitalen Währung Bitcoin aufkam, sich nun aber für globale Lieferketten, d.h. den dabei anfallenden, sehr aufwändigen Austausch von Dokumenten geradezu anbietet. Unter einer Blockchain ist eine spezielle Datenbank zu verstehen, in der Transaktionsdaten ohne eine zentrale Kontrollinstanz und ohne die Notwendigkeit gegenseitigen Vertrauens verwaltbar seien, so Niazi. Die Datenbank wird chronologisch erweitert, vergleichbar einer Kette, der am unteren Ende ständig neue Elemente hinzugefügt werden (daher auch der Begriff Blockchain, zu deutsch Blockkette). Ist ein Block vollständig, wird der nächste erzeugt; jeder Block enthält dabei zur Sicherheit eine Prüfsumme des vorhergehenden Blocks.
In einer die Vorträge abschließenden Podiumsdiskussion stießen Rud Sejling, Chef des zum Maersk-Konzern gehörenden Logistikdienstleisters Damco, sowie Frithjof Netzer, Chief Digital Officer bei BASF, dazu. Netzer ging dabei kurz auf die derzeitigen Anstrengungen des Chemiekonzerns ein, zunächst am Hauptsitz Ludwigshafen eine höhere Supply Chain Visibility über alle Zu- und Ablieferungen zu erreichen, und das für alle vier genutzten Verkehrsträger (Straße, Bahn, Binnenschiff, Pipeline). Ganz abgesehen von irgendwelchen Leistungsverbesserungen lasse sich durch den mit digitalen Daten geschaffenen Überblick flexibler reagieren, wenn einer der Verkehrsträger – wie erst im Herbst bei der Bahn durch die monatelange Sperrung der Rheintalstrecke geschehen (siehe S. 14) – einmal ausfällt. „Wir wissen dann sofort, wo noch freie Kapazitäten sind und müssen nicht hin- und hertelefonieren.“ Mit der allumfassenden Logistikplattform ließen sich natürlich auch gleich von vornherein Ausfallszenarien festlegen.
Start-Ups mit dabei
Neben dem offiziellen Plenum gibt das EPCA-Jahrestreffen noch mehr als andere Branchenveranstaltungen Raum und Zeit zu bilateralen Treffen und Gesprächen unter den Führungskräften. Viele Chemiedienstleister stellten während kleinerer Termine ihre Dienste vor. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist das niederländische Start-Up Tankcontainerfinder, das über die gleichnamige Website Angebots- und Nachfrageseite auf einfache Weise zusammenbringt. Laut Mitgründer Arthur van der Hoeven seien bereits mehr als die Hälfte der weltweit rund 500.000 auf dem Markt verfügbaren Tankcontainer mitsamt ihren Spezifika wie etwa der Tankcodierung registriert. Die Top 10 der Tankcontainer-Operator seien allesamt dabei, weil sie sich dadurch eine größere Flottenauslastung und einen besseren Marktüberblick versprechen. Auch europäische Landtransporteure und Tankreinigungsstationen zählen inzwischen zu den Nutzern der Anfang 2017 gestarteten Website. Für die Nachfrageseite benennt van der Hoeven eine im Vergleich zur bisherigen Bestellpraxis schnellere Verfügbarkeit und geringere Depot-/Lagerkosten als Vorteile. Die Suche nach einem passenden Tankcontainer erfordert u.a. die Eingabe der UN-Nummer, wenn es sich bei dem zu befördernden Produkt um ein Gefahrgut handelt. Noch ist die Nutzung von tankcontainerfinder.com kostenlos, im Laufe des Jahres soll es aber eine Bezahl-Schranke geben.
Eine weitere „digitale“ Neuunternehmung ist Gobuychem, das unter der gleichnamigen Website Verkäufer und Käufer von Chemikalien zusammenbringt, die dabei jeweils anonym bleiben. Der britische Online-Vermittler hat nach eigenen Angaben bereits 240 Tonnen Chemikalien verkauft und unterhält für Auslieferungen zu Kunden ein eigenes Distributionsnetzwerk. Ziel von Unternehmensleiter Bharat Bhardwaj ist es, in zehn Jahren drei Prozent des europäischen Spot-Markts für Chemikalien über die Plattform laufen zu lassen, dies entspricht einem Volumen von rund 250 Millionen Euro.
Schwieriges Marktumfeld
Den abschließenden Hauptvortrag auf dem diesjährigen EPCA Annual Meeting hielt der frühere Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-moon. Er skizzierte die im Lauf des Jahres 2017 gestiegenen politischen Unsicherheiten, die sich auch auf die Chemieindustrie auswirken, sowohl von der Beschaffungs- als auch von der Absatzseite her.
Auch in Bezug auf die wirtschaftlichen Voraussetzungen agiert die europäische Chemieindustrie in einem immer schwierigeren Marktumfeld. Im globalen Wettbewerb muss sie die im Vergleich zu den Golfstaaten und seit einigen Jahren auch den USA zum Teil deutlich höheren Rohstoff- und Energiekosten durch Kostensenkungen in anderen Bereichen oder durch Produkt- und Technologieinnovationen ausgleichen. Ein Beispiel im Bereich Innovationen ist, dass die europäischen Betreiber von Steam Crackern ihre Anlagen in Bezug auf den Produkte-Output (Ethylen, Propylen, Benzol, Toluol, Xylol usw.) viel flexibler an die aktuelle Nachfragesituation anpassen können als früher.
Trotz des schwierigen Marktumfelds und einer nebenher immer weiter ausufernden EU-Gesetzgebung haben sich die europäischen Chemieproduzenten in den vergangenen Jahren beachtlich geschlagen (siehe Info-Kasten auf S. 9). Dies weckt aber Begehrlichkeiten bei den Wettbewerbern am Golf, den USA und Fernost, die sich verstärkt in Europas Chemieindustrie einkaufen – nicht zuletzt, um deren technologische Vorteile auf ihre Heimatstandorte zu übertragen. So erwachsen für Europas Chemie künftig noch weitere Herausforderungen.
(aus: gela 01/18, www.gefaehrliche-ladung.de)
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