Der deutsche Chemiehandel verbuchte im vergangenen Jahr dank stark gestiegener Preise Rekordeinnahmen. Für das laufende Jahr sind die Aussichten eher trüb.
(skl) Die rund 100 Mitgliedsunternehmen des deutschen Chemiehandels konnten im vergangenen Jahr insgesamt 22,4 Milliarden Euro erlösen – das sind rund 35 Prozent mehr als im bisherigen Rekordjahr 2021. Indes fiel der Mengenabsatz der Branche in Deutschland um 15 Prozent auf 5,3 Millionen Tonnen Produkte, wie der Verband Chemiehandel (VCH) bekannt gab. In den vergangenen zehn Jahren hatte die Branche stets mehr als 6 Millionen Tonnen Chemikalien geliefert. Der deutliche Mengenrückgang im Jahr 2022 zog sich gleichmäßig über alle Produktbereiche. Den Großteil der Produkte machten wie üblich Säuren und Laugen aus (3,4 Millionen Tonnen Absatz), gefolgt von Lösemitteln (0,77 Mio. t), Feststoffen (0,66 Mio. t) und Spezialitäten (0,55 Mio. t).
Das Umsatzwachstum, das bei Industriechemikalien (+42 Prozent) noch deutlich stärker ausfiel als bei Spezialchemikalien (+30 Prozent) erklärt sich ausschließlich aus stark gestiegenen Preisen. Setzt man Um- und Absatz ins Verhältnis, konnten die Händler 2022 im Durchschnitt rund 60 Prozent mehr als 2021 von ihren Kunden verlangen. Der VCH begründet dies mit wiederum stark gestiegenen Beschaffungskosten sowie mit Sondereffekten, von denen die Händler im vergangenen Jahr profitierten. Bei einigen Produkten gab es extreme Ausschläge: so hat sich der Preis für Salzsäure – eigentlich ein Abfallprodukt aus der Chlorchemie - vervielfacht, da übliche Lieferanten in Deutschland die Produktion eingestellt hatten und das Massengut somit nur zu einem nie dagewesenen Einkaufspreis und unter erheblichem Transportaufwand beschafft werden konnte.
Für das laufende Jahr wird nun allerdings mit sinkenden Umsätzen gerechnet, wie eine Umfrage des VCH unter den Mitgliedsunternehmen weiter ergab. „Chemikalienhändler und ihre Kunden erleben weiterhin eine Zeit der Unsicherheit mit angespannten Lieferketten, hohen Energiekosten und weiteren Folgen aus dem immer noch andauernden Krieg in der Ukraine“, so VCH-Präsident Christian Westphal. Der Krieg und die damit zusammenhängenden Embargos sorgten dafür, dass Unternehmen ihre Geschäfte mit russischen Partnern abgebrochen hätten und mehr oder weniger abschreiben mussten.
Weitere Störfaktoren seien die aktuellen Zinserhöhungen im Euroraum und eine allgemeine Furcht vor weiterer Inflation. „Alle diese Faktoren führen dazu, dass dem Chemiehandel auch in diesem Jahr Planungssicherheit fehlt“, so Westphal. Einzelne Industrien wie die Bau- oder die Automobilbranche seien in letzter Zeit deutlich hinter den Erwartungen zurückgeblieben. In anderen Branchen verringerten Kunden in Erwartung niedrigerer Preise ihre Lagermengen merklich. In dieser Situation des Destocking bewährte sich der Chemiehandel als ausgleichendes Element: Die Unternehmen erhöhten ihre Lagermengen in Volumen und in Wert. Das gelang laut Westphal mit erheblichem Einsatz, durch Mehrleistung der Angestellten vor allem in der Logistik und dem Customer Service. Herausfordernd war dabei auch die notwendige „faire Verteilung“ der verfügbaren Mengen. Sorgen bereiten der Branche nun zunehmende Zahlungsausfälle, die etwa zuvor in der Corona-Pandemie kein Thema waren. Dadurch wird die Finanzierungsfähigkeit einiger VCH-Mitgliedsunternehmen stark strapaziert.
Dennoch gibt es auch Hoffnungszeichen: Nachdem im dritten Quartal 2022 die Aussichten für die kommenden Monate auf einem Tiefpunkt angelangt waren, hat sich die Stimmung zum Jahresende und in den ersten Wochen des neuen Jahres deutlich verbessert. Rund 60 Prozent der Unternehmen wollen 2023 neue Mitarbeiter einstellen, im Vorjahr waren das nur 45 Prozent. Einige Chemiehändler haben Neubauprojekte (Abfüllanlagen) bzw. Modernisierungen (Läger) geplant, wodurch der Wert der Investitionen insgesamt ansteigt. Die Investitionsquote wird von 2,8 Prozent im vergangenen Jahr auf voraussichtlich 3,4 Prozent steigen. Rund 70 Prozent der Mitgliedsfirmen gaben an, ihre Investitionen zu 100 Prozent aus Gewinnen oder Abschreibungen zu finanzieren. Einige Unternehmen nehmen Kredite in Anspruch, diese aber nur als Ergänzung.
Standort Deutschland
VCH-Präsident Christian Westphal verweist auf drei Herausforderungen, vor denen die Branche insbesondere im Heimatmarkt Deutschland steht: „Es geht für unsere Unternehmen jetzt darum, die Lieferketten zu sichern, Klimaneutralität zu erreichen und dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.“ Dafür brauche der Chemiehandel stärkeren Rückhalt in der Politik. „In letzter Zeit erleben wir, dass sich die Standortbedingungen für den Chemiehandel in Deutschland und auch Europa verschlechtern“, so Westphal. Er verweist angesichts immer neuer Regulierungen aus Berlin und Brüssel auf den erhöhten Aufwand für rechtskonformes Handeln. Rechtsetzungsverfahren würden immer häufiger ohne Beteiligung der betroffenen Wirtschaft „durchgedrückt“.
Der Chemiehandel hat großes Interesse daran, dass sich Deutschland als attraktiver, konkurrenzfähiger Standort behauptet. Ein Schlüssel dazu sind die Energiepreise. „Hohe Energiekosten werden zur weiteren Abschaltung zentraler Produktionsprozesse in der Chemischen Industrie führen“, so Westphal. Der Chemiehandel spiele daher eine immer wichtigere Rolle bei der Beschaffung bzw. dem Import der fehlenden Mengen. Deutschland wurde im Oktober 2022 zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte zum Nettoimporteur von Chemikalien.
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