Vollbremsung mit System

Ausrüstung – Bisher wurden Notbremsassistenten (AEBS) noch weniger als andere Fahrerassistenzsysteme verbaut, nun sind sie für neue Lkw Pflicht geworden. BP rüstet seine deutschen Spediteure schon jetzt damit aus.

(skl) Es ist eine der häufigsten Unfallarten bei Nutzfahrzeugen überhaupt: Ein Lkw fährt – oft am Stauende – auf den Vordermann auf. Ursache sind Unaufmerksamkeit, überhöhte Geschwindigkeit bzw. zu geringer Abstand. Oft genug sind dabei auch Gefahrgutfahrzeuge im Spiel. In den Unfallmeldungen finden sich regelmäßig Auffahrunfälle – allein in dieser Ausgabe sind es zwei. Allzu oft nehmen sie für den Unfallverursacher mangels "Knautschzone" ein tödliches Ende.

Ab sofort wird die Zahl der Auffahrunfälle wohl langsam aber sicher zurückgehen. Am 1. November war der Stichtag für die europaweit verbindliche Einführung des Notbremsassistenten, in der Nutzfahrzeugbranche auch Advanced Emergency Braking System (AEBS) genannt. Hiervon betroffen sind alle Neuzulassungen von Lkw ab 8 Tonnen zulässigem Gesamtgewicht mit luftgefederter Hinterachse. Für neue Typzulassungen liegt der Stichtag bereits zwei Jahre zurück. Hintergrund ist das erste Weißbuch Verkehr der EU, das für den Zeitraum 2000 bis 2010 bei der Zahl der im Straßenverkehr getöteten Personen eine Halbierung anstrebte. Dieses Ziel wurde nicht erreicht.

Gesetzliche Grundlage für den Notbremsassistenten ist die Verordnung 661/2009/EC, welche die Ausstattung mit (verkehrs-)sicherheitserhöhenden Fahrerassistenzsystemen in zeitlicher Staffelung vorschreibt. Vor dem AEBS wurden in einem ersten Schritt Elektronische Fahrstabilitätssysteme, in der Branche bekannt als ESP oder ESC, bereits zum November 2014 verbindlich eingeführt; für neue Typzulassungen galt dies bereits ab 2011. Zeitgleich mit dem Notbremsassistenten – also 2013 bzw. 2015 – wurden desweiteren noch Spurverlassenswarner zum gesetzlichen Standard. Dieses System müssen nun aber bereits alle Neu-Lkw ab 3,5 Tonnen Gesamtgewicht aufweisen. Beim AEBS trifft Lkw zwischen 3,5 und 8 Tonnen die Ausrüstungspflicht erst ab November 2018.

Richtlinien hinken dem Markt hinterher

Alle großen Zugmaschinenhersteller haben in den vergangenen Jahren in Anbetracht der gesetzlichen Einführung Notbremsassistenten entwickelt. Vorreiter war der Active Brake Assist (ABA) von Mercedes Benz, dessen erste Generation im Jahr 2006 vorgestellt wurde. Die heute auf dem Markt erhältlichen AEBS, die zumeist mit anderen Fahrerassistenzsystemen im Paket angeboten werden, leisten mehr, als es die EU-Verordnung 661/2009/EG bzw. die genauere Durchführungsverordnung 347/2012/EC und die zugehörige UN/ECE-Richtlinie 131 vorgeben. "Diese beiden in den Jahren 2012/13 verabschiedeten Regelungen entsprechen nicht dem Stand der Technik", so Dr. Erwin Petersen von der Landesverkehrswacht Niedersachsen, der vor seinem Ruhestand für den Automobilzulieferer Wabco Assistenzsysteme entwickelte.

So legt die 347/2012/EC bei einem vom System erkannten Kollisionsrisiko mit einem sich bewegenden Vorausfahrzeug eine intensive Warnung und – wenn der Fahrer darauf nicht reagiert – eine autonome Notbremsung fest, die eine Kollision definitiv zu vermeiden hat. Hersteller haben dies in einem Bremstest mit einer Geschwindigkeit von 80 km/h auf ein mit 32 km/h bewegtes Vorausfahrzeug nachzuweisen. In einer zweiten, ab 2018 verbindlichen Stufe wird dann die Geschwindigkeit des Vorausfahrzeugs auf 12 km/h abgesenkt.

Bei den technisch sehr viel anspruchsvoller zu behandelnden stehenden Vorausfahrzeugen schreibt die Richtlinie indes nur eine Reduzierung der Fahrzeuggeschwindigkeit um mindestens 10 km/h vor. Diese Mindestanforderung steigt in einer zweiten Stufe ab 2018 auf 20 km/h. Für die häufigen Fälle, in denen ein zu dicht auffahrender Lkw auf ein Stauende trifft, zielen die Regelwerke also nur auf eine Unfallmilderung, nicht auf eine Unfallvermeidung.

AEBS basieren für die sichere Erkennung des Abstands zum Vordermann und dessen Geschwindigkeit auf einem Radarsensor, oft ist dieser mit einer Kamera kombiniert. Im Zusammenspiel mit anderen Systemen wie Beschleunigungssensoren, Lenkwinkel und Pedalstellungen wird so ein mögliches Kollisionsrisiko erkannt. Ist dies der Fall, wird der Fahrer in einer ersten Stufe visuell und akustisch gewarnt. Reagiert der Fahrer darauf nicht, leitet das Gerät eine Teilbremsung ein, der nachfolgende Verkehr wird mit automatisch aktiviertem Bremslicht und schnellem Blinklicht gewarnt. Wenn der errechnete Abstand zu gering wird, der Fahrer weiter nicht reagiert und auch nicht mehr ausweichen kann, wird eine Vollbremsung mit mindestens –4 m/s2 ausgelöst. Diese Warnkaskade ist ebenfalls mit genauen Werten (Time to Braking, Time to Collision) in der 347/2012/EG festgelegt.

Bei Lkw ist der Notbremsassistent häufig mit dem Abstandsregeltempomaten kombiniert. Im Unterschied zu diesem lässt sich die AEBS-Funktion vom Fahrer aber nur für die laufende Fahrt ausschalten. Zudem hat der Fahrer, der laut Wiener Übereinkommen über den Straßenverkehr sein Fahrzeug unter allen Umständen beherrschen muss, die Möglichkeit, das AEBS während der Warnkaskade zu "übersteuern", etwa durch einen Kick-Down des Gaspedals oder Blinkersetzen. Somit bleibt er weitgehend Herr der Lage. Schwächen hat das System bei der Identifizierung von kleineren Zielen als Pkw, etwa Motorrädern oder Fußgängern. Außerdem wird der Fahrbahnzustand nicht berücksichtigt.

In einem von der BG Verkehr durchgeführten mehrjährigen Feldtest waren 767 mit ESP, Abstandsregeltempomat und Spurverlassenswarner ausgerüstete Lkw zu 34 Prozent weniger in Unfälle verwickelt als eine vergleichbar eingesetzte Flotte ohne diese Assistenzsysteme. "Der breite Einsatz von AEBS lässt noch eine deutlich höhere Unfallvermeidbarkeit erwarten", so Petersen. In Kombination mit den anderen Fahrerassistenzsystemen könnten die heutigen Unfallzahlen um bis zu 70 Prozent gesenkt werden. Schwere Auffahrunfälle ließen sich durch AEBS sogar um bis zu 90 Prozent vermeiden.

Mineralölindustrie als Vorreiter

Die Mineralölindustrie spielt eine Vorreiterrolle bei der freiwilligen Einführung von Fahrerassistenzsystemen an Tankfahrzeugen. Dies gilt auch für den Notbrems­assistenten, der bislang – also vor seiner gesetzlichen Einführung bei Neuzulassungen – von den Lkw-Käufern wenig nachgefragt worden war. "Wir wollten AEBS eigentlich schon 2011 von unseren Spediteuren abfordern", so Torsten Bütow, Safety Advisor bei BP Europa. Allerdings waren die Hersteller damals noch nicht so weit. Als bei einem Vergleichstest, den BP für die gesamte deutsche Mineralöltransportbranche im Frühjahr durchführte, Mercedes, MAN, Iveco und Scania eindrucksvoll die Zuverlässigkeit der heutigen Systeme bewiesen, traf der Mineralölkonzern den Entschluss, AEBS im Zuge des Ende 2015 anstehenden Flottenaustauschs vorzuschreiben.

In Deutschland beliefern die Speditionen Hoyer und Bonifer BPs Aral-Tankstellen. Welcher Notbremsassistent von welchem Hersteller eingesetzt wird, bleibt den Spediteuren überlassen. "Wir geben wie immer in Sachen Fahrzeuganforderungen nur Funktionalitäten vor", so Bütow. Man wolle grundsätzlich nicht den Wettbewerb unter Zugmaschinen- und Tankfahrzeugherstellern verzerren. Natürlich kostet neue, zusätzliche Sicherheitsausstattung auch mehr Geld. "Diese Kosten berücksichtigen wir in unseren Verträgen", so Bütow. Wenn durch Fahrerassistenzsysteme Unfälle wirksam vermieden werden, ist die Rechnung für alle Beteiligten am Ende wieder billiger.

(aus: gela 11/15, www.gefaehrliche-ladung.de)

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