Zwei Wege vom Schiff

Binnenschifffahrt – Im ADN, dessen Entwicklung von den sich ändernden Rahmenbedingungen des Gefahrguttransports, zuweilen auch von Schiffsunfällen getrieben ist, stechen die Neuregelungen zu Fluchtwegen hervor.

Von Hendrik Lorenz

Man sollte annehmen, dies sei ein recht einfaches Thema, zumal es hier nicht um Rettung oder Flucht vor Gefahren auf Hoher See geht, sondern um Gefahrgutumschlag, der oft weit im Binnenland und mit anzunehmend guter Infrastruktur zur Begegnung möglicher Gefahren für Leib und Leben stattfindet.

Zuweilen gab es auch Äußerungen beteiligter Parteien, dass demjenigen die Verantwortung für Bergung, Flucht oder Rettung zufalle, der – im Unglücksfall – gerettet werden oder vor einer Gefahr fliehen muss. Etwas zynisch übersetzt in den Alltag hieße das, dass derjenige Krankenwagen oder Feuerwehr vorhalten muss, der eventuell solche Hilfe benötigen wird.

Wie kam es nun aber zu dieser Diskussion, wie war der Stand vor der Novellierung des ADN und was erwartet uns 2015?

Die Diskussion um Fluchtwege für Binnenschiffe im Gefahrguttransport hat Geschichte. Die Regel war, dass im Vor- und Achterschiffsbereich geeignete Mittel zum Verlassen des Schiffes vorhanden sein mussten. Im ADNR, dem Vorgänger des heutigen ADN, galt lange die Kombination aus einem festen Fluchtweg und dem Beiboot als ausreichend. Das war auch in den Hafenverordnungen der deutschen Bundesländer Stand der Dinge.

Die immer stärker variierenden Schiffslängen und die zunehmende Höhe der Bordwände leerer Schiffe führte öfter zu Diskussionen hinsichtlich der Beschaffenheit der Fluchtwege. Hierbei wurde das Beiboot als ein möglicher Fluchtweg zunehmend kritisch bewertet. In der Folge wurde das Beiboot als Fluchtwegmöglichkeit aus der Prüfliste des ADNR gestrichen, die Verpflichtung zu mindestens zwei "Mitteln" blieb bestehen.

2011 galten sowohl das ADNR als auch das ADN nebeneinander. Das ADN enthielt die aus dem ADNR bekannten, gleichlautenden Bestimmungen, ohne das Beiboot noch als Fluchtweg zu nennen. Die Vorstellungen darüber, wie der zweite Fluchtweg beschaffen sein müsste, wurden nicht definiert. Man ging gemeinhin von zwei festen Landverbindungen aus – ohne jedoch die tatsächliche Beschaffenheit der Landanlagen zu prüfen.

In den Niederlanden sind an den meisten Umschlagsanlagen tatsächlich auch zwei feste Landverbindungen vorhanden. In Deutschland ist das bei weitem nicht so.

Diese Abweichung der Realität vom Gesetz wollte der das ADN beschließende Sicherheitsausschuss der UNECE so nicht länger dulden. Eine konsequente Durchsetzung der Anforderung zweier fester Landverbindungen schien aber auch nicht möglich, zumindest stieß dies auf gehörigen Widerstand bei den Vertretern der Landanlagen, zumal die Schaffung einer zweiten Landverbindung auch mit nicht unerheblichen Kosten verbunden sein kann und vielleicht auch nicht für alle Güter nötig ist.

In den Jahren 2012 und 2013 fanden mehrere Workshops mit allen Beteiligten der Branche statt, um Grundlagen für ein neues, von den gefährlichen Eigenschaften der Güter ausgehendes Konzept zu schaffen.

In Folge dessen kam es zu Veränderungen dieser Vorschriften im ADN 2015, die für die von einem Gefahrgut ausgehenden Risiken entsprechend einer Gütergruppen-Matrix unterschiedliche Anforderungen an die Anzahl, teilweise auch an die Art und Lokalisation von Fluchtwegen festlegen:

  • 7.1.4.77 ADN – Mögliche Evakuierungsmittel im Notfall (für Trockengüterschiffe)
  • 7.2.4.77 ADN – Mögliche Evakuierungsmittel im Notfall (für Tankschiffe)

Wortwörtlich hieß es noch im ADN 2013 in Kapitel 1.4 über die Sicherheitspflichten der Beteiligten: "... sicherzustellen, dass im Bereich des Vor- und des Hinterschiffs geeignete Mittel vorhanden sind, um das Schiff in Notfällen zu verlassen".

Verpflichtungsübergang

Hieraus wurden nun im ADN 2015 explizit zwei Evakuierungsmittel gemacht und entsprechender Interpretationsspielraum bei der Ausstattung der Umschlagseinrichtungen eingeräumt. Gleichzeitig wurde in ADN 1.4.2.2.1d) aber auch ein Handlungsverpflichtungsübergang von Landanlagen auf Binnenschiffe festgeschrieben, wenn diese einen zweiten Fluchtweg nicht zur Verfügung stellen oder stellen können: "Der Beförderer hat sicherzustellen, dass ein zweites Evakuierungsmittel verfügbar ist, damit das Schiff in Notfällen verlassen werden kann, sofern die landseitige Einrichtung nicht mit dem vorgeschriebenen zweiten Evakuierungsmittel ausgerüstet ist."

In Ermangelung entsprechender Zulassungsbestimmungen ist es aber bis heute völlig unklar, wie ein schiffseitiges Evakuierungsmittel bzw. Fluchtboot auszusehen hat. Klar ist jedoch, dass ein Binnenschiff nur begrenzte Möglichkeiten des Stauraums hat und je nach Einsatzgebiet auch Höhenrestriktionen zu berücksichtigen sind. Dies könnte nun unter Umständen dazu führen, dass einige Binnenschiffe in Ermangelung geeigneter Rettungsmittel einige Tankläger nicht mehr anlaufen können.

Da nicht kategorisch davon auszugehen ist, dass die Ausstattungen der Landanlagen mit Evakuierungsmitteln immer hinlänglich bekannt sind, fordert der Gesetzgeber vor Beginn des Ladungsumschlages einen Informationsaustausch der Beteiligten: "Vor einem Umschlag hat der Beförderer in Absprache mit dem Betreiber der landseitigen Einrichtung die Verfügbarkeit der Evakuierungsmittel zu klären." (Bemerkung zu 1.4.2.2.1d). Damit obliegt der Binnenschifffahrt die aktive Rolle der Informationsbeschaffung, während die Landanlage diese Informationen zur Verfügung stellen muss.

Das ADN 2015 sieht für die Gestellung des obligatorischen zweiten Fluchtweges in 7.2.4.10.1 eine Übergangsvorschrift für den Umschlag von flüssigen Gütern vor: "(Umschlagsvoraussetzung) … Die zuständige Behörde kann für einzelne Umschlagstellen bis längstens 31. Dezember 2016 genehmigen, dass abweichend von Unterabschnitt 8.6.3 eine Prüfliste mit der Frage 4 in der bis zum 31. Dezember 2014 geltenden Fassung verwendet wird."

Auswirkungen auf die Branche

Die Gesamtheit der Neuregelungen ist für die Binnenschifffahrt schwer verdaulich: Zum einen werden einige Landanlagen durch das Inkrafttreten des ADN 2015 quasi über Nacht von bisher bestehenden Verpflichtungen befreit – ohne dass es dafür einen wirklich nachvollziehbaren sachlichen Grund gibt. Zum anderen steht aber nur der Landseite – und nicht dem Beförderer – die Beantragung einer Übergangsregelung zu.

Binnenschiffe müssen nun also bereits ab 1. Juli nach Ablaufen der halbjährigen Übergangsfrist ggf. das geforderte zweite Rettungsmittel beibringen, was einen nicht unerheblichen Investitionsaufwand mit sich bringt.

Stellt man einmal die Pro- und Kontra-Punkte der neuen Fluchtweg-Regelungen gegenüber, so ist sicherlich die Aufhebung der zuvor starren Regelung zugunsten eines an den Eigenschaften der umgeschlagenen Gefahrgüter orientierten Anforderungsprofils eine positive Entwicklung. Gleichwohl ist der willkürliche Verantwortungs- und Verpflichtungsübergang, für ein zweites Evakuierungsmittel zu sorgen, unverständlich und übervorteilt hier deutlich die Interessen einer der beteiligten Parteien.

Auch werden hier Anforderungen in ein Gesetz gegossen, ohne dass hinreichend die notwendigen Rahmenbedingungen geschaffen wurden, wie die Einrichtung eines Katasters der Umschlageinrichtungen mitsamt deren Ausstattungsmerkmalen und Kommunikationswegen, um die durch die zuständige Behörde geforderten Absprachen zu gewährleisten.

Wünschenswert wäre sicherlich eine genauere Ausgestaltung der Fluchtweg-Regelungen gewesen, bevor sie insbesondere für die Beförderer verbindlich umzusetzen sind. Die Umschlagsanlagenseite kann sich indes den neuen Regelungen genauso verbindlich entziehen.

(aus: gela 01/15, www.gefaehrliche-ladung.de)

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